(Michael Schröpl für Interzine '94.01', 1994-01-16
neu in HTML gesetzt und überarbeitet 1999-06-22)
Oft genug befindet sich ein Spielleiter in der Situation, einen Rückzug für eine Einheit durchführen zu müssen, die von dem entsprechenden Spieler keine Rückzugsbefehle erhalten hat (aus welchem Grund auch immer).
Im Standard-Diplomacy hat die Rechte-Hand-Regel (bekannt auch als Eric-Just-Regel, nachfolgend mit RHR abgekürzt) seit vielen Jahren gute Dienste geleistet und allfällige andere Verfahren (etwa "retreat ex") längst verdrängt. Es wäre daher naheliegend, diese Regel auch in allen Diplomacy-Varianten zu verwenden. Leider ist die Regel dafür nicht gedacht und deckt eine Reihe von Fällen, die in Varianten durchaus auftreten können, nicht ab.
Bevor ich mit meinen Beispielen anfange, möchte ich die Zielgruppe dieses Artikels etwas einschränken.
Für Standard-Diplomacy reicht die RHR aus. (Tiefes Aufatmen bei einigen Lesern.) Das liegt aber nicht etwa an der Vollständigkeit dieser Regel, sondern lediglich an der 'Gutartigkeit' der Standard-Diplomacy-Karte.
Schon für World Domination II, dessen Karte eigentlich ziemlich 'brav' aussieht, reicht die RHR jedoch nicht mehr aus (das war der Anlaß für diesen Artikel - ich leite eine Partie Kapitalisten-WorldDominationII im Amtsblatt); von den allseits bekannten 'wilden' Gilgamesch-Szenarien wollen wir mal ganz absehen.
Eines der Ergebnisse dieses Artikels kann es durchaus sein, vor bestimmten Kartenkonstellationen zu warnen. Treten diese Konstellationen nicht auf, dann reicht die RHR aus. Insofern sollten die Erkenntnisse dieser Diskussion, die ich mit diesem Artikel auslösen möchte, in eine Art 'Anleitung' für Zeichner von Karten beliebiger neuer Diplomacy-Varianten münden. (Da gehört meiner Meinung nach auch hinein, daß kein Punkt einer Grenzlinie mehr als drei Felder berühren sollte. Ich hasse 'Kreuzungen'!)
Wir sollten aber nicht vergessen, daß es mindestens eine Variante gibt, die bereits gespielt wird und für 'gut' befunden wurde (und angeblich sogar mit DIP_WORK ausgewertet werden kann), die sich in keinster Weise an meine Vorschläge halten wird: Bei Seismic Diplomacy können alle nachfolgend beschriebenen perversen Kartenkonstellationen jederzeit auf Wunsch der beteiligten Spieler erzeugt werden. Wer immer Seismic Diplomacy spielt oder leitet, sollte auf die entsprechenden Phänomene besonders achten.
Und außerdem zeigt die Überschrift schon an, daß ich mich bei meinen Betrachtungen auf den einfachen Fall beschränken will, daß lediglich Einheiten (nicht also Figuren, Artefakte usw.) auf dem Brett stehen. Allfällige Spezialprobleme überlasse ich den Designern der speziellen Varianten.
Betrachten wir nun also den folgenden Ausschnitt der Karte einer beliebigen Diplomacy-Variante (Beta ist die Insel Sasebo in World Domination II):
F Alpha-Gamma mit Unterstützung, die gegnerische F Gamma wird vertrieben.
Der GM packt nun also routinemäßig seine RHR aus, begibt sich in die Position von Gamma, schaut Richtung Alpha - und stutzt. Wo ist denn eigentlich die Front?
Und wie soll nun gezählt werden?
Die Idee der RHR soll es angeblich gewesen sein, daß sich die vertriebene Einheit "möglichst offensiv" zurückzieht. Deshalb zieht sie ja auch so knapp wie möglich am Angreifer vorbei. In diesem Falle wäre Beta nicht nur ein gültiges, sondern sogar ein sehr wünschenswertes Rückzugsfeld. Man könnte bzw. sollte Beta also vielleicht sogar vor Epsilon ausprobieren ...
Wie dem auch sei: Felder, die eine Rückzugsfront in Teilfronten trennen, werden von der RHR nicht behandelt. Für solche Felder ist die Regel also in jedem Falle zu erweitern.
Leider ist der oben angegebene Fall nur einer von vielen (zur Anschaulichkeit sogar der primitivste!), der die RHR bereits überfordert.
Im allgemeinen Falle können zwischen Alpha und Gamma nämlich beliebig viele Felder liegen (z. B. viele kleine Inseln zwischen zwei großen Seefeldern). Und was dann)
Egal, ob man die Felder der Frontlinie vor oder nach den sonstigen Rückzugsfeldern abarbeiten will, man braucht ein definiertes Verfahren dafür. Dabei gibt es beliebig viele Möglichkeiten:
Nein, das tun sie leider nicht, wie die folgende Karte zeigt:
In jedem Falle brauchen wir eine Zuteilungsreihenfolge für diese drei Felder Beta, Epsilon und Omega, von denen die beiden letztgenannten auch noch aneinander grenzen. Als Motivation gebe ich zu bedenken, daß alle sonstigen Rückzugsfelder besetzt sein könnten - das sollte wohl reichen, denn "retreat ex" finden wir ja noch immer nicht besser - oder?
Eine sinngemäße Erweiterung der RHR könnte darin bestehen, auch die Liste dieser besonderen Felder von der Mitte her aufzulösen. Da für alle Felder die Bedingung gilt, daß sie an Gamma grenzen, kann man die Grenzlinie von Gamma entlanglaufen und erhält dabei eine Liste dieser Felder in einer brauchbaren Reihenfolge.
Zwei Sonderfälle dürfen nicht unerwähnt bleiben:
Mit einem Verfahren, das eine Liste aller Felder 'in der Front' bestimmt, die als Rückzugsfelder in Frage kommen, kann man eine Serialisierung aller Rückzüge einer Einheit an dieser Front durchführen.
Leider sind wird damit noch längst nicht fertig - ganz im Gegenteil, jetzt wird es nämlich kompliziert. Das bisher beschriebene oder jedes gleichwertige Verfahren behandelt nur genau alle Felder, die sich in derselben Grenzlinie befinden wie die Grenze(n) zwischen Alpha und Gamma.
Im Allgemeinen kann jedes Feld allerdings mehrere Grenzlinien besitzen. Zum Glück nur eine einzige äußeren Grenzlinie (das ist diejenige, die bei den gängigen Varianten vorliegt), theoretisch aber auch beliebig viele innere Grenzlinien, nämlich genau dann, wenn ein Feld ein oder mehrere andere Felder umschließt.
Auch eine innere Grenzlinie kann übrigens aus mehr als einem Feld bestehen: Wären Alpha und Gamma ein zusammenhängendes Feld, dann würde dieses Feld die Felder Epsilon und Omega aus dem 2. Beispiel umschließen und eine innere Grenzlinie der Länge 2 besitzen.
Noch dazu ist die Zahl der inneren Grenzlinien theoretisch nur durch die Zahl der Felder der Karte beschränkt - nämlich dann, wenn genau ein Feld alle anderen Felder umschließt (Out in Seismic Dippy!). Auch solcherart umschlossene Felder, die es in Gilgamesch-Szenarien gibt und die in Seismic Dippy leicht herzustellen sind (und dort sogar sinnvoll sind: Ein kleines Land kann sich mit seinem letzten SC in einem anderen Feld verstecken, so daß es nicht eliminiert werden kann), grenzen an das Ausgangsfeld der vertriebenen Einheit und sind damit zunächst einmal legale Rückzugsfelder.
Diese Felder 'schwimmen' allerdings meistens völlig frei in dem sie umgebenden Feld herum und sind daher kaum irgendwie sinnvoll sortierbar. Sind mehrere solcher Felder miteinander verbunden, dann ist deshalb noch lange keine rechts-links-Richtung definiert, weil das entsprechende Gebilde in beliebiger Richtung in dem umgebenden Feld liegen kann.
Wären solche 'inneren Inseln' immer nur ein Feld groß, dann würde ich vermutlich vorschlagen, solche Felder nach dem Alphabet abzuarbeiten (wobei man die normierten Abkürzungen, nicht die prosamäßigen Feldnamen verwenden sollte).
Eine Reihenfolge anzugeben, welche die unterschiedliche Größe (in Feldern natürlich, nicht in Quadratzentimetern) solcher Inselchen auch noch berücksichtigt, halte ich mich nicht für kompetent. Vorschläge?
Auch bei den 'inneren' Grenzlinien stellt sich die Frage, wann die entsprechenden Felder relativ zu den bereits beschriebenen Feldern betrachtet werden sollen. Vieles spricht dafür, die äußere Grenzlinie bevorzugt zu behandeln; bei den mir bisher bekannten Karten sind innere Felder meistens Sackgassen. (Allerdings sind bei beliebig komplizierten Karten Fälle denkbar, bei denen das auch umgekehrt sein kann!)
Ich interpretiere allerdings den 'Geist' der RHR so, daß sich eine vertriebene Einheit zuerst in Feld an derjenigen Grenze suchen sollte, über die hinweg sie angegriffen wurde (also dem Feind entgegen, statt von ihm wegzulaufen). Ob dieser Gedanken allerdings Vorrang gegenüber einer Bevorzugung der äußeren Grenzlinie haben sollte, vermag ich nicht zu sagen. Meinungen erbeten!
Zusammenfassend möchte ich die wesentlichen offenen Fragen noch einmal auflisten:
Ich würde mich freuen, wenn diese Aspekte in Meinungsäußerungen zu diesem Thema berücksichtigt würden.
Letztlich ist mein Ziel übrigens auch eine formale Beschreibung aller möglichen Karten für Diplomacy-Varianten. Aus dieser könnte man vielleicht Aussagen über eine allgemeine Lösbarkeit bestimmter Probleme in allen Diplomacy-Varianten ableiten. Mich würde so etwas interessieren ... wen noch?
Nachsatz: Mir ist völlig klar, daß jetzt wieder einmal manch ein Diplomacy-GM aufheulend zusammenbricht und meint, das wäre alles kein Problem, würde nie auftreten und wäre sowieso egal. Daher möchte ich diese Leser gerne darauf hinweisen, daß
Nice dice (bei der Auswürfelung der Felder der Rückzugsliste!).